Pflegenotstand, Materialmangel, Zeitnot – was alles in unserem Gesundheitssystem schiefläuft
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Dank dem HarperCollins Verlag durfte ich ein Buch lesen, dessen Inhalt Swen und mich brennend interessiert hat. Wir sind nämlich beide untrennbar mit dem Gesundheitssystem in diesem Land verbunden – Swen ist Physiotherapeut, ich bin chronisch krank und habe schon viele (und nicht nur gute) Bekanntschaften mit Ärzten, Krankenhäusern und der medizinischen Versorgung im Allgemeinen gemacht. Ihr seht – auch für uns ein emotional hochbrisantes Thema – deshalb wird diese Rezension auch eigene Meinung enthalten und eher weniger objektiv sein (nur so als Vorwarnung). 😉
Wer ist eigentlich Nina Böhmer und warum mag sie keinen Applaus?
Nina Böhmer ist gelernte Pflegefachkraft, arbeitet bei einer Zeitarbeitsfirma und ist in verschiedenen Berliner Krankenhäusern tätig. Bekannt wurde sie durch ihren Beitrag bei Facebook, in dem sie ihrem Ärger über die Politik, deren Entscheidungen in Zeiten von Corona und der Ignoranz der meisten Balkonapplaudierer Luft macht. Dort schreibt sie: „Und euer Klatschen könnt ihr euch sonst wohin stecken, ehrlich gesagt… Tut mir leid, es so zu sagen, aber wenn ihr helfen wollt oder zeigen wollt, wie viel wir wert sind, dann helft uns, für bessere Bedingungen zu kämpfen!“
Ein Facebook-Beitrag – ist damit nicht alles gesagt?
Mitnichten! Denn unser Gesundheitssystem krankt nicht erst seit der Corona-Pandemie. Nina Böhmer berichtet von ihren Werdegang, dem frühen Wunsch, in einem sozialen Beruf zu arbeiten und dem steinigen Weg dorthin, der mit vielen Enttäuschungen und Ernüchterungen gepflastert war.
So erlebte sie während ihrer Ausbildung das erste und einzige Mal, wie Pflege eigentlich aussehen könnte, wenn genug Personal vorhanden wäre – und zwar auf der Schulstation der Pflegeschüler. Leider musste sie damals feststellen, dass dies mit der Realität nicht viel zu tun hat, ebenso wenig wie die Ausstattung der Krankenhäuser, die manchmal erschreckend vorsintflutlich und veraltet ist. Und auch das Thema Hygiene wird leider nicht überall so ernst genommen wie es eigentlich sollte.
Der Alltag in den Kliniken sieht eben nicht so aus, wie es in den Fernsehserien immer gezeigt wird: wo die Patienten alle in hübschen Einzelzimmern liegen, jeder spätestens am Ende die richtige Diagnose und Therapie bekommt und das gesamte Personal immer Zeit für einen Plausch mit den Erkrankten und einen Kaffee mit den Ärzten hat, mit denen es natürlich voll von gegenseitigem Respekt auf Augenhöhe zusammenarbeitet. Nina Böhmer erzählt, was alles nicht richtig läuft – besonders auch während der Corona-Krise – und womit sie tagtäglich zu kämpfen hat, vergisst aber dabei trotzdem nicht die schönen Momente ihres Berufs – nämlich dann, wenn sie den Patienten wirklich helfen kann, wieder gesund zu werden und ein gutes Leben zu führen.
Die Frage nach dem Warum
Trotz dieser Momente bin ich beim Lesen auch immer wieder richtig wütend geworden. Warum werden Menschen, die für die Gesundheit und das Wohlergehen anderer Menschen verantwortlich sind, so schlecht bezahlt? Warum sind die Arbeitsbedingungen so mies und niemand ändert etwas? Und damit meine ich nicht nur die Pflegekräfte, sondern alle Berufsgruppen im sozialen Bereich. Warum müssen zum Beispiel Physiotherapeuten ihre Ausbildung und Fortbildungen selbst finanzieren und das auch noch in ihrer Freizeit? Warum wird nicht viel mehr Geld für Therapie und Prävention bereitgestellt? Und vor allem: warum sind Krankenhäuser Wirtschaftsunternehmen, die Gewinne erzielen dürfen und damit sowohl Patienten als auch Personal zu „Wirtschaftsfaktoren, Fallpauschalen und Kostenfaktoren“ [Seite 190] degradieren?
Ach, es gibt einfach so vieles, was bei uns schiefläuft! Leider – und da stimme ich Nina Böhmer voll und ganz zu – wird sich an der Situation wenig bis gar nichts ändern. Die, die darüber entscheiden, sind erstens meist nicht vom Fach (unser Gesundheitsminister ist Bankkaufmann) und/oder zweitens betrifft es sie in den meisten Fällen nicht (mit Geld kann man zwar keine Gesundheit kaufen, aber die besseren medizinischen Leistungen). Und die Bürger, die nicht krank sind, beschäftigen sich wahrscheinlich eher seltener mit den Tücken und Ungerechtigkeiten unseres Gesundheitssystems.
Natürlich gibt es auch Punkte in dem Buch, bei denen ich mit der Autorin nicht ganz einer Meinung bin, zum Beispiel die zu harte Kritik am Robert-Koch-Institut oder ihre Einschätzung zum Gesundheitsrisiko durch Covid-19 – da hatte ich das Gefühl, dass sie dies ein wenig heruntergespielt hat. Aber wahrscheinlich sehe ich das durch meine Patienten-Risikogruppen-Perspektive auch nochmal anders.
Wer sollte dieses Buch denn lesen?
Eigentlich jeder, der mal einen Blick hinter die Kulissen unseres Gesundheitssystems werfen möchte. Lasst euch von der Autorin mitnehmen in den Alltag einer Pflegekraft, versucht zu verstehen, welchen Belastungen die Menschen in den Gesundheitsberufen Tag für Tag ausgesetzt sind und denkt vielleicht auch daran, solltet ihr mal Patient oder Patientin in einem Krankenhaus sein. Lest es, bildet euch eine Meinung, redet darüber. Denn jeder kann mal krank werden, und dann seid ihr auf andere Menschen angewiesen, die wie Nina Böhmer ihren Job hoffentlich noch mit Herzblut machen und nicht schon innerlich gekündigt haben.
Vielleicht möchtet ihr auch die Petition unterzeichnen, die unter anderem von Jana Langer – ebenfalls Pflegekraft und Verfasserin eines offenen Briefs an die Kanzlerin – ins Leben gerufen wurde und damit zumindest versuchen, die Politik zum Umdenken zu bewegen und das tun, was Nina Böhmer in ihrem Facebook-Post gefordert hatte: helfen, für bessere Bedingungen zu kämpfen.
Bibliographische Angaben:
Nina Böhmer
„Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken“
ISBN 978-3-7499-0092-3
HarperCollins
Taschenbuch, 10,00 Euro
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